Telegrams from the nose (press review)

press
   

Telegrams from the Nose bei der MaerzMusik

Mit der Strohgeige in die Avantgarde

Ann-Christine Mecke, BERLINER ZEITUNG

Gleich zu Beginn ist Stalin präsent. Sein Gesicht schwebt über die Leinwand, er raucht eine Pfeife, die so aussieht wie die von Magritte, die gar keine Pfeife ist. Stalin war es, der für die Verhaftung des Schriftstellers Daniil Charms sorgte, der Dmitri Schostakowitsch einschüchtern und seinen einstigen Kampfgenossen Nikolai Bucharin zum Tode verurteilen ließ. Dialoge aus Bucharins letztem Auftritt im Zentralkomitee werden auch im Verlauf des Musiktheaters "Telegrams from the Nose" zitiert; der Komponist und Sprecher François Sarhan murmelt sie in ein Megaphon. Doch eigentlich geht es in der kurzen Musik-Film-Performance, die im Rahmen von MaerzMusik in der Neuen Nationalgalerie gezeigt wurde, um das, was vor der "großen Säuberung" gedieh: um die russische Avantgarde und ihre Vorbilder. Um Gogol und seine Novelle von der Nase, die sich selbstständig macht, mit der Polizei in Konflikt kommt und unvermittelt wieder im Gesicht ihres Besitzers auftaucht. Um Daniil Charm s' Figuren, die träumen, hinter einem Polizisten zu stehen, während ein Gebüsch vorbeiläuft. Und um Schostakowitschs wohl radikalstes Werk, die Oper "Die Nase", von Kritikern als "Handgranate eines Anarchisten" bezeichnet.

Spiel mit Schatten

Diese absurde Welt präsentieren François Sarhan und der südafrikanische Künstler William Kendridge kaleidoskopartig in einer kuriosen Verbindungen aus Musik, Trickfilm, Sprechtext und Schauspiel. Gesungen wird in den "Telegrammen" nur selten, und doch wird aus dem Zusammentreffen der Künste echtes Musiktheater, weil die verschiedenen Elemente so kunstvoll ineinander greifen: Die Musik, die eben noch die Cut-Out-Animationen von Kendridge illustrierte, wird im nächsten Moment zum Antrieb einer Szene, die von Texten auf der Leinwand konterkariert wird. Und manchmal sind die Musiker und ihre bizarren Instrumente selbst das Zentrum des Geschehens - bis der Sprecher mal wieder "Spasibo" brummelt, denn dann kommt etwas Neues. Die Telegramme der Nase erzählen keine Geschichte, sondern tollen frei herum, heißt es im Programmtext.

Am Spiel mit Filmprojektion und Schatten haben Kendridge und Sarhan offensichtlich eine Menge Spaß. Mehrfach bekommt Sarhans Schatten auf der Leinwand einen Faustschlag ab und fällt, während der Sprecher selbst stehen bleibt. Dafür pflanzen die filmischen Schläge und Stürze sich musikalisch fort und finden ihren Wiederhall beispielsweise in der Strohgeige, einer Geige mit Schalltrichter statt Resonanzkörper. Sarhan verlangt gleich ein ganzes Ensemble solcher Saiteninstrumente mit Metalltrichter, was der ganzen Gruppe einen eigenartigen, etwas scheppernden Klang verleiht. Auch Sarhan selbst tritt quasi als Stroh-Sprecher auf, denn er spricht in ein Megaphon.

Alles geklaut

Die angenehm entspannt auftretenden Musiker des Ictus-Ensembles unter der Leitung von Georges-Elie Octors leisten Erstaunliches an diesem seltsamen Instrumentarium. Am meisten beeindruckt François Deppe, der als Strohcellist und Sprecher ein virtuoses Duett mit sich selbst darbietet. Nicht weniger kunstfertig musizieren Igor Semenoff (Strohvioline), Tom Pauwels (Strohgitarre) und Jean-Luc Plouvier (Synthesizer). Auch wenn Schostakowitschs "Nase" nicht zitiert wird, ist Sarhans Musik mit ihren harten Klängen, ihrer Polyphonie und ihrem Wiederhall der szenischen Aktion erkennbar von ihr inspiriert.

Gewiss, die Elemente dieses kurzweiligen Abends sind allesamt geklaut. Der Applaus an diesem Abend gebührt auch Charms, Gogol und Schostakowitsch. Aber diese Zusammenstellung ist so sprudelnd, so eigenständig und kunstvoll, wie es die russische Avantgarde war - bevor Stalin ihr ein Ende bereitet hat.

A.-C. M.

g

Mentioned in this article
From the Ictus Press-Book & François Sarhan